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Was ist Clean Core und wie setzt man es für SAP-Systeme um?
Clean Core hält den SAP-ERP-Kern stabil, update-fähig und sicher, während Erweiterungen über die SAP Business Technology Platform erfolgen. Was bringt dieser Ansatz?
Mit der Business Technology Platform (BTP) von SAP existiert eine standardisierte Architektur, die stabile Abläufe und schnelle Anpassungsfähigkeit ermöglicht. Clean Core ist Teil dieses Ansatzes und definiert den Rahmen für die SAP ERP-Landschaft.
Das Prinzip eines sauberen ERP-Kerns
Clean Core bezeichnet eine Entwicklungsstrategie, bei der das zentrale ERP-System unverändert bleibt. Der SAP-Standardcode bildet die feste Grundlage. Jede Änderung im Kern widerspricht diesem Konzept. Alle Erweiterungen entstehen außerhalb des Systems über definierte Schnittstellen, In-App-Mechanismen oder Cloud-Komponenten. So bleibt das System dauerhaft update-fähig, skalierbar und wartungsfreundlich.
Die Entflechtung von Standard und Customization soll technische Schulden vermindern. Es verhindert, dass über Jahrzehnte gewachsene Z-Programme, also kundenspezifische Programme, Transaktionen und Funktionsbausteine das System blockieren. Ein sauberer Kern ist leichter zu prüfen, transparenter zu überwachen und zuverlässiger im Betrieb. Regelmäßige Sicherheits-Updates und Innovationen lassen sich mit weniger Risiko einspielen.
Strategische Bedeutung für S/4HANA
Der Clean-Core-Ansatz folgt einer zentralen Idee. Der größte Teil der Geschäftsprozesse sind branchenübergreifend gleich. Ihre Individualisierung erzeugt keinen Wettbewerbsvorteil, verursacht aber Aufwand. Der Standard deckt diese Prozesse ab, während die verbleibenden Prozesse über Erweiterungen realisiert werden.
In der Public Cloud Edition von S/4HANA ist Clean Core verpflichtend. In der Private Cloud und On-Premises-Version bleibt er technisch optional, in der Realität aber unverzichtbar. Jede Modifikation führt zu höherem Wartungsaufwand und gefährdet die Upgrade-Fähigkeit. Clean Core ist damit nicht ein Zusatz, sondern eine Grundbedingung für eine zukunftsfähige Systemarchitektur.
Standardisierung als Basis für Agilität
SAP verknüpft Clean Core mit neuen Entwicklungs- und Bewertungsmodellen. Das Clean Core Level Conzept mit den Stufen A bis D bewertet den Grad der Standardkonformität und das technische Risiko eines Systems. Das Clean Core Measurement Framework ergänzt diese Bewertung um messbare Kennzahlen und KPIs, mit denen Unternehmen Fortschritt und Stabilität ihres ERP-Kerns verfolgen können.
Zwei Strategien leiten die Umsetzung: Get Clean beschreibt die Rückführung historisch gewachsener Systeme in den Standard. Stay Clean bedeutet, diesen Zustand fortlaufend zu sichern. Beide Ansätze verlangen eine klare Governance, regelmäßige Codeanalysen und abgestimmte Entwicklungsrichtlinien.
Erweiterbarkeit über die Business Technology Platform
Die Business Technology Platform (BTP) ist die technologische Grundlage für den Clean-Core-Ansatz. Sie bietet Entwicklungswerkzeuge, Integrationsdienste und Betriebsfunktionen, mit denen Unternehmen Funktionen hinzufügen, ohne den Kern zu verändern. Das SAP Cloud Application Programming Model (CAP) und das SAP ABAP RESTful Application Programming Model (RAP) sind die Programmiermodelle dieser Architektur.
SAP Cloud Application Programming Model (CAP) dient als Framework für Cloud-native Anwendungen mit klar definierten Schnittstellen. RAP ermöglicht Erweiterungen mit ABAP, die sich innerhalb der Systemgrenzen bewegen, aber keine Kernobjekte verändern. CAP bildet die Grundlage für Erweiterungen auf der Business Technology Platform. Es erlaubt die Entwicklung von Cloud-Anwendungen mit offenen Standards wie Java oder Node.js und nutzt definierte APIs, um Daten und Prozesse aus S/4HANA sicher anzusprechen. So entstehen eigenständige, skalierbare Anwendungen außerhalb des ERP-Kerns, die unabhängig gepflegt und aktualisiert werden.
Das RESTful ABAP Programming Model (RAP) hingegen richtet sich an Erweiterungen innerhalb des ABAP-Stacks. Es basiert auf REST- und OData-Services und ermöglicht die Erstellung von Standard-Geschäftsanwendungen, die den Kerncode nicht verändern. Beide Modelle sichern eine saubere Trennung zwischen Standard und Individualisierung und sind technische Eckpfeiler des Clean-Core-Prinzips. Beide Modelle erlauben eine saubere Trennung zwischen Geschäftslogik, Datenhaltung und Benutzeroberfläche.
Über die SAP Integration Suite lassen sich Fremdsysteme anbinden. Low-Code-Tools wie SAP Build erleichtern die Erweiterung ohne tiefes Programmierwissen. Die Plattform fungiert als gemeinsame Entwicklungsumgebung, in der eigene Anwendungen, Microservices und Integrationen parallel zum ERP laufen. Unternehmen nutzen dadurch moderne Cloud-Technologien, ohne auf ihre bestehenden Systeme verzichten zu müssen.
Clean Core in der Praxis
Der Weg zu einem Clean-Core-Ansatz beginnt mit einer umfassenden Analyse. Custom-Code-Analysen und Readiness Checks identifizieren kritische Eigenentwicklungen. Daraus entstehen Migrationspfade, die festlegen, welche Funktionen sich über den Standard abbilden lassen und welche in die Cloud ausgelagert werden.
Die Transformation erfolgt schrittweise. Greenfield steht für einen vollständigen Neubeginn. Brownfield bezeichnet die Bereinigung eines bestehenden Systems. Selective Transformation kombiniert beide Wege. Parallel dazu gelten die Prinzipien von Stay Clean und Get Clean. Sie sichern den langfristigen Erhalt des Standards und verhindern, dass neue Modifikationen entstehen.
Cloud Application Lifecycle Management (Cloud ALM) übernimmt die Überwachung des gesamten Lebenszyklus. Es ersetzt den früheren Solution Manager und sorgt dafür, dass Systeme kontinuierlich überprüft und gewartet bleiben. Über Dashboards wie SAP for Me oder RISE with SAP lassen sich Fortschritte, Risiken und Kennzahlen zentral steuern.
Technische und methodische Grundlagen
Eine Clean-Core-Architektur basiert auf vier technischen Säulen:
- Erweiterbarkeit über definierte APIs und Services.
- Integration über standardisierte Schnittstellen für konsistente Datenflüsse.
- Agilität durch modulare Entwicklung und kontinuierliche Bereitstellung.
- Sicherheit durch geringere Angriffsfläche und geprüfte Systemkomponenten.
Die Architektur nutzt Cloud-Mechanismen, um Prozesse zu modularisieren. Abhängigkeiten zwischen Applikationen werden minimiert. Individuelle Erweiterungen laufen isoliert auf der BTP. So bleibt der ERP-Kern unverändert, selbst wenn neue Funktionen hinzukommen.
Die Kombination aus der SAP BTP-ABAP-Umgebung, CAP und UI5-Anwendungen schafft eine flexible Struktur, in der bestehender Code modernisiert und Cloud-konform betrieben werden kann. Erweiterungen greifen ausschließlich über genehmigte APIs auf Daten zu. Die Systemlandschaft bleibt skalierbar und stabil, unabhängig von Release-Zyklen.
Governance und Partner
Clean Core ist ein kontinuierlicher Prozess. Das Governance-Modell von SAP schreibt klare Regeln für Erweiterungen, Dokumentation und Codequalität vor. Jedes Unternehmen kann mit dem Clean Core Measurement Framework eigene Kennzahlen definieren, um Stabilität und Konformität messbar zu machen.
Erweiterungen werden regelmäßig geprüft, analysiert und bewertet. Die Kombination aus Cloud ALM, automatisierter Testumgebung und definierter Risikobewertung ermöglicht eine präzise Steuerung des Entwicklungszyklus.
Clean Core verändert allerdings auch das SAP-Partnerumfeld grundlegend. Standardwissen, Branchenkompetenz und Cloud-Fähigkeit werden zur Voraussetzung. Partner entwickeln auf der Industry Cloud eigene Module, die branchenspezifische Anforderungen abdecken.
Laut SAP sollen mehr als fünfzig Prozent der Entwicklungsleistung auf fachliche White Spaces entfallen. Dazu gehören branchenspezifische Workflows, lokale Compliance-Erweiterungen, semantische Datenintegration und Automatisierung von Supply-Chain- oder Maintenance-Prozessen. Die Business Data Cloud bildet dafür die Datenbasis und ermöglicht den Aufbau datengetriebener Lösungen.
SAP unterstützt das Partnernetzwerk über Programme wie das SAP Partner Portal, den SAP Business Accelerator Hub und die Industry Cloud. Roadmap Explorer, SAP Build und BTP bilden die gemeinsame Toolchain.
Ein Clean-Core-System verlangt auch eine neue Form des Projektmanagements. Unternehmen definieren Roadmaps, die technische und fachliche Ebenen verbinden, und nutzen dafür die integrierte Toolchain von SAP. Cloud ALM koordiniert Entwicklungs-, Test- und Betriebsprozesse, automatisiert Upgrades und überwacht deren Auswirkungen auf Erweiterungen.
SAP Build, die Extension Suite und das Clean Core Dashboard bilden gemeinsam eine Umgebung, in der Updates ausgewertet und Abweichungen vom Standard automatisch erkannt werden. KI-Funktionen in der Business Technology Platform übernehmen Routineaufgaben wie Codeanalyse, Regressionstests oder die Priorisierung von Anpassungen. So entsteht eine dynamische Steuerung, die sicherstellt, dass der Clean Core dauerhaft erhalten bleibt und alle Komponenten des Systems in synchronen Release-Zyklen laufen.
Nachhaltiger Betrieb und Änderungsmanagement
Der langfristige Erfolg eines Clean Core hängt von kontinuierlicher Governance und automatisierter Qualitätssicherung ab. Die Toolchain von SAP verknüpft Entwicklungs- und Betriebsprozesse zu einem geschlossenen Regelkreis. Cloud ALM steuert den gesamten Lebenszyklus von Erweiterungen, bewertet Codeänderungen, führt Tests aus und dokumentiert Ergebnisse. Über das Clean Core Dashboard werden alle Systeme laufend bewertet, die Kennzahlen aus dem Measurement Framework fließen direkt in die Projektsteuerung ein.
Wesentlich ist die Verbindung von technischer Wartung und organisatorischem Wandel. Unternehmen richten eigene Clean-Core-Teams ein, die Anpassungen prüfen und mit dem Standard abgleichen. Jede neue Anforderung durchläuft eine Fit-to-Standard-Analyse, bevor sie in die Entwicklung gelangt. So bleibt die Architektur konsistent und jede Erweiterung nachvollziehbar.
Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt diesen Prozess. Die Business-AI-Funktionen von SAP erkennen redundante Codeabschnitte, empfehlen Standardfunktionen und automatisieren Routineprüfungen. Joule, der KI-Copilot, analysiert Systemabhängigkeiten, priorisiert Aufgaben und schlägt technische Lösungen vor. Damit verschiebt sich der Fokus vom reaktiven Codemanagement hin zu vorausschauender Systempflege.
Auch das Änderungsmanagement gewinnt an Bedeutung. Clean Core erfordert eine disziplinierte Entwicklungsorganisation mit klaren Freigabeprozessen. Fachbereiche melden Anforderungen, die IT prüft sie auf Standardkonformität, und Änderungen werden über definierte Governance-Workflows freigegeben. Diese Struktur ersetzt individuelle Anpassungen durch geregelte Erweiterungsmechanismen und verhindert, dass sich neue technische Schulden bilden.
Organisatorische und kulturelle Veränderungen
Clean Core verändert auch die Struktur der Entwicklungsarbeit. Teams arbeiten agil, interdisziplinär und iterativ. Design Thinking und UX Research werden Teil des Entwicklungsprozesses. Nutzer-Feedback fließt direkt in neue Erweiterungen ein.
Die Rollen verschieben sich. Klassische ABAP-Entwickler arbeiten zunehmend mit Cloud-Technologien, Java, Node.js, Python oder Low-Code-Tools. Neue Funktionen entstehen auf der BTP in Verbindung mit Fiori-Frontends. IT-Teams übernehmen Governance-Aufgaben, Fachbereiche definieren Anforderungen, die in kurzen Zyklen umgesetzt werden. Enablement-Programme und Coaching-Angebote von SAP unterstützen diesen Wandel. Unternehmen erhalten Schulungen, praxisnahe Workshops und begleitende Beratung, um Clean-Core-Kompetenz aufzubauen und im Betrieb zu verankern.
Sicherheit und Compliance
Ein sauberer Kern vereinfacht Sicherheitsmanagement und Audits. Sicherheits-Updates lassen sich ohne Anpassungen übernehmen. Die Business Technology Platform stellt Verschlüsselung, rollenbasierte Zugriffskontrolle und moderne Authentifizierungsverfahren bereit.
Standardisierte Prozesse erleichtern die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben. Auditoren können Datenflüsse und Prozessketten nachvollziehen, da alle Änderungen dokumentiert und reproduzierbar sind. Unternehmen reduzieren damit Risiken und erhöhen Transparenz.
Langfristige Perspektive
Clean Core ist ein dauerhafter Gestaltungsrahmen. Unternehmen, die ihn konsequent umsetzen, schaffen eine stabile Basis für künftige Technologien. Regelmäßige Updates halten Systeme aktuell. Neue Funktionen aus der Cloud lassen sich ohne Eingriffe aktivieren. Ein sauberer Kern steht für Nachhaltigkeit, Transparenz und technische Kontrolle. Er reduziert Kosten, stärkt Sicherheit und beschleunigt Innovation. Clean Core ist keine Einschränkung, sondern die Voraussetzung, um den vollen Nutzen von S/4HANA, BTP und Business AI zu entfalten.
SAP macht deutlich, dass die Zukunft des ERP im Standard liegt. Clean Core bedeutet nicht Verzicht auf Individualität, sondern eine klare Trennung zwischen Standard und Innovation. So entsteht eine ERP-Landschaft, die stabil, erweiterbar und dauerhaft zukunftsfähig bleibt.