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Wenn KI Code schreibt: Wie sich die Entwicklerrolle verändert

KI generiert heute nicht nur Code – sie unterstützt auch beim Testen, Optimieren und Automatisieren von Aufgaben. Doch was nach Entlastung klingt, wirft auch einige Fragen auf.

Mit dem Einzug generativer KI hat sich die Art und Weise, wie Software entwickelt wird, grundlegend verändert. Tools wie Cursor AI, Windsurf AI, GitHub Copilot und Claude Code übernehmen heute komplexe Aufgaben, die weit über das reine Schreiben von Code hinausgehen. Sie unterstützen Entwickler bei einem Großteil ihrer täglichen Arbeit – zum Beispiel bei der Entwicklung neuer Features, dem Schreiben von Tests, dem Debugging und dem Refactoring von Code.

Viele dieser Tools nutzen inzwischen KI-gesteuerte Agenten, die automatisch Kontext erfassen, Terminalbefehle ausführen und semantische Codesuchen durchführen. Damit vollzieht sich ein Wandel: weg von punktueller Unterstützung hin zu weitgehend autonomen Entwicklungsabläufen. Moderne KI-Code-Tools erfassen dabei den gesamten Projektkontext, erkennen Abhängigkeiten über Dateien hinweg und ermöglichen großflächiges Refactoring.

Diese Entwicklung verunsichert viele Entwickler. Laut einer Studie des Pew Research Centers sehen 50 Prozent der befragten Experten klassische Rollen in der Softwareentwicklung durch KI bedroht. Gleichzeitig zeigen Daten von Google (Oktober 2024), dass inzwischen mehr als ein Viertel der neu geschriebenen Codes maschinell generiert wird. Dennoch betont Google CEO Sundar Pichai: Entwickler sind heute wichtiger denn je.

Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, steht in Wahrheit für einen tiefgreifenden Wandel: Die Rolle von Entwicklern verschwindet nicht, sondern ihr Schwerpunkt verlagert sich. Technische Verantwortung gewinnt an Bedeutung: Statt selbst jede Codezeile zu schreiben, rücken übergreifendes Systemdenken, Kreativität, strategischer Weitblick und der gezielte Einsatz von KI in den Vordergrund.

Technisches Fachwissen allein reicht dafür nicht mehr aus. Gefragt sind heute verstärkt sogenannte Power Skills – insbesondere klare Kommunikation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und strategisches Denken. Entwickler sollten bewusst in diese Fähigkeiten investieren und eine wachstumsorientierte Haltung einnehmen, die den Blick auf Lösungen statt auf reine Umsetzung legt.

Von der Codeproduktion zur technischen Bewertung

Wenn KI den Basiscode erzeugt, verändert sich die Rolle von Entwicklern. Sie schreiben weniger selbst, übernehmen dafür aber eine deutlich aktivere Rolle bei der Überprüfung und Bewertung des Codes. Im Fokus stehen Fragen wie: Passt der Code ins bestehende System? Ist er sicher, performant, skalierbar, robust und wartbar? Vor allem aber müssen Entwickler beurteilen, ob der generierte Code die fachlichen Anforderungen und Unternehmensziele erfüllt.

Die Rolle von Entwicklern wandelt sich zunehmend hin zu einer Art KI-Orchestrator: Fachleute, die KI-gestützte Entwicklungsprozesse gestalten, steuern und überwachen. Denn sobald KI nicht nur einfach CRUD-Funktionen, sondern ganze Microservices-Architekturen generiert, liegt die Verantwortung bei den Entwicklern in folgenden Bereichen:

  • KI-Workflow-Design: Entwicklung strukturierter Anweisungen (Prompts) und verketteter KI-Aufgaben, mit denen komplexe Entwicklungsschritte automatisiert werden können. Dafür braucht es nicht nur ein Verständnis dessen, was entwickelt werden soll, sondern auch wie sich ein Problem in logisch verknüpfte, KI-verarbeitbare Teilaufgaben zerlegen lässt.
  • Kontextmanagement: Sicherstellen, dass KI Zugriff auf alle relevanten Informationen hat – etwa zur Systemarchitektur, zu fachlichen Anforderungen und zu technischen Rahmenbedingungen –, um Lösungen zu schaffen, die nicht nur funktional korrekt, sondern auch strategisch sinnvoll sind.

Fortgeschrittenes Prompt Engineering: Die neue technische Spezifikation 

Prompt Engineering hat sich bis 2025 weit über das einfache Formulieren von Anweisungen hinaus entwickelt und ist zu einer anspruchsvollen technischen Disziplin geworden. Entwickler sollten heute in folgenden Dimensionen denken:

  • Kontextbezogene Prompt-Gestaltung: Prompts so entwickeln, dass sie Systemarchitektur, Sicherheitsanforderungen, Performance-Ziele und Geschäftslogik berücksichtigen und die KI gezielt zu tragfähigen Lösungen führen.
  • Schrittweises Problemlösen (Chain of Thought): Prompts gestalten, die die KI dazu anregen, komplexe Aufgaben nachvollziehbar in Einzelschritte zu durchdenken – mit Raum für menschliche Eingriffe an entscheidenden Stellen.
  • Fehlerantizipation: Eingaben formulieren, die Sonderfälle vorwegnehmen und die KI zu robustem Fehlermanagement und sicherem Umgang mit Ausnahmezuständen anleiten.

Ein Prompt für eine Zahlungsfunktion muss heute beispielsweise nicht nur die Transaktionslogik umfassen, sondern auch Compliance-Anforderungen, Betrugserkennung, Prüfpfade und Fehlerbehandlung – und das eingebettet in eine bestehende Systemarchitektur.

Berufseinstieg ohne Praxiserfahrung? Neue Anforderungen ans Lernen

Besonders für Einsteiger verändert sich der Zugang zum Beruf. Traditionelle Lernaufgaben wie das Schreiben einfacher Komponenten, das Beheben kleiner Bugs oder das Erstellen grundlegender Tests – Aufgaben, die früher typisch für den Berufseinstieg waren – werden in manchen Unternehmen zunehmend automatisiert. Dadurch fehlt vielen die praktische Erfahrung, wie ein Feature überhaupt entsteht. Wer nur das Ergebnis sieht, lernt den Weg dorthin nicht. Die zugrunde liegende Logik bleibt unsichtbar und der Code wird zur Blackbox.

Entwicklungsteam müssen deshalb neue Lernformate schaffen, um fehlende Praxiserfahrung gezielt auszugleichen:

  • KI-unterstütztes Mentoring: Junior Entwickler gezielt mit erfahrenen Kollegen und KI-Tools zusammenbringen und ihnen zeigen, wie Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine im Entwicklungsalltag gelingt.
  • Strukturierte Lernpfade: Praxisnahe Trainingsangebote entwickeln, die den gesamten Softwareentwicklungszyklus abbilden – selbst wenn KI große Teile der Implementierung übernimmt.
  • Prompt-Engineering-Schulungen: Einsteiger darin ausbilden, Anforderungen und Systemdesign aus der Perspektive der Zusammenarbeit mit KI zu denken und präzise zu formulieren.

Systemarchitektur bleibt eine menschliche Aufgabe

Generative KI kann Funktionen bauen, aber keine Systeme. Architekturentscheidungen hängen von Faktoren ab, die weit über den aktuellen Anwendungsfall hinausgehen: Skalierbarkeit, Modularität, Latenzanforderungen, Schnittstellendesign oder spätere Wartbarkeit.

Die jeweiligen Entscheidungen basieren auf Erfahrungen, praktischem Betriebswissen und technischem Weitblick. Besonders in regulierten oder sicherheitskritischen Umfeldern reicht ein lokal optimierter Code nicht aus. Hier zählt der Überblick – und der entsteht nicht durch Trainingsdaten, sondern durch Planung und eine strategische Herangehensweise.

Murali Sastry, Skillsoft

„KI verändert den Alltag in der Entwicklung, doch sie ersetzt weder technische Urteilskraft noch systemisches Denken. Wer Systemzusammenhänge versteht, den maschinellen Output kritisch hinterfragt und den Überblick über Architektur, Qualität und Prozesse behält, wird auch künftig unersetzlich bleiben.“

Murali Sastry, Skillsoft

Da sie die architektonische Verantwortung haben, ist klar: Entwickler müssen über den Code hinausdenken und aktiv Power Skills entwickeln, wie strategisches Denken, Systemverständnis und die Fähigkeit, langfristige Auswirkungen technischer Entscheidungen zu bewerten. Der Aufbau oder die Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten erfordert Zeit und Struktur. Es beginnt mit einer ehrlichen Einschätzung der aktuellen Kompetenzen und einem klaren Verständnis dafür, wo Wachstum nötig ist. Ein gezielter Lernplan – zum Beispiel mit Online-Kursen, Mentoring, Praxisprojekten und professionellem Austausch – kann helfen, genau diese Lücken zu schließen. Mit konsequenter Anstrengung wird Fortschritt sichtbar: Jeder kleine Schritt zahlt auf das große Ganze ein.

Sicherheit und Qualität im KI-Zeitalter

Mehr Automatisierung bedeutet nicht automatisch mehr Sicherheit. Tatsächlich wächst mit dem Einsatz von KI auch die Angriffsfläche. Ein generierter Code kann Schwachstellen enthalten, schwer nachvollziehbar sein oder rechtliche Risiken bergen.

Gleichzeitig steigt durch den verbreiteten KI-Einsatz der Druck, schnell zu liefern. Das macht klare Prozesse zur Pflicht: Wer überprüft die KI-Ergebnisse? Wie wird dokumentiert, ob ein Code manuell oder maschinell entstanden ist? Welche Kriterien gelten für Tests und Freigaben?

Nur drei Prozent der Unternehmen gelten einer Cisco-Studie zufolge derzeit als ausreichend vorbereitet auf die aktuellen Cyberrisiken. Das zeigt: Ohne strukturierte Abläufe bleibt KI ein Risiko, statt ein Hebel für Qualität zu sein.

Entwickler sollten daher folgende sicherheitsrelevanten Kompetenzen mitbringen:

  • KI-spezifische Sicherheitsmuster: Verstehen, welche neuen Angriffsvektoren durch KI entstehen und entsprechende Schutzmaßnahmen gezielt entwickeln und umsetzen.
  • Resistenz gegen Manipulation: Sicherstellen, dass ein KI-generierter Code auch unter gezielten Angriffen stabil, sicher und verlässlich bleibt.
  • Kontinuierliche Sicherheitsüberwachung: Systeme einführen, die erkennen, wenn sich ein KI-generierter Code im laufenden Betrieb auffällig oder unvorhersehbar verhält.

Die Power-Skills-Revolution

Kein Tool der Welt ersetzt die Zusammenarbeit im Team. Gerade in KI-gestützten Entwicklungsprozessen wird es zunehmend wichtiger, dass Entwickler sich mit Projektverantwortlichen, UX-Design-, Security- und Operations-Teams abstimmen. Das verlangt keine Präsentations-Skills, sondern die Fähigkeit, technische Entscheidungen nachvollziehbar zu kommunizieren: Warum wurde etwas wie gebaut? Wo liegen Risiken? Was wäre eine Alternative?

Wer technische Tiefe mit Kontextverständnis verbindet, wird zum zentralen Bindeglied zwischen Entwicklung, Produkt, Betrieb und Security und trägt dazu bei, dass Anwendungen nicht nur laufen, sondern im Gesamtbild funktionieren. Deshalb sind folgende Power Skills umso wichtiger:

  • Strategische Kommunikation: Technische Möglichkeiten von KI verständlich in den fachlichen Kontext übersetzen und so dem Unternehmen helfen zu erkennen, was technisch machbar und zugleich geschäftlich sinnvoll ist.
  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Eng abgestimmte Kooperation mit Produktmanagern, UX-Designern, Security-Teams und Business-Stakeholdern, um sicherzustellen, dass KI-gestützte Entwicklung die Ziele der Organisation unterstützt.

Agentic AI: Die nächste Entwicklungsstufe

Neueste Durchbrüche wie Googles Gemini zeigen agentenbasierte Fähigkeiten, die speziell für Entwickler, Unternehmen und Einzelpersonen entwickelt wurden. Diese Systeme können eigenständig Tests planen, Pull Requests strukturieren oder Tickets priorisieren.

Entwickler, die mit agentischer KI arbeiten, brauchen insbesondere folgende Kompetenzen:

  • Agentenführung mit Augenmaß: KI-Systeme begleiten, regulieren und gezielt eingreifen – dabei aber ausreichend Handlungsspielraum lassen, damit die KI-Agenten effektiv agieren können.
  • Prozesse sinnvoll orchestrieren: Entwicklungsabläufe so gestalten, dass menschliches Know-how und KI-Automatisierung sich sinnvoll ergänzen.
  • Ziele klar verankern: Dafür sorgen, dass KI-Agenten Ziele verfolgen – abgestimmt auf die Projektanforderungen und Unternehmensstrategien.

Fazit: Eine strategische Rolle übernehmen

KI verändert den Alltag in der Entwicklung, doch sie ersetzt weder technische Urteilskraft noch systemisches Denken. Wer Systemzusammenhänge versteht, den maschinellen Output kritisch hinterfragt und den Überblick über Architektur, Qualität und Prozesse behält, wird auch künftig unersetzlich bleiben.

Die Rolle von Entwicklern im Jahr 2025 wird strategischer, vernetzter und wirkungsvoller denn je. Die Zukunft gehört denen, die KI nicht als Bedrohung sehen, sondern als Werkzeug, um ihren strategischen Einfluss gezielt auszubauen. Wer seine menschlichen Fähigkeiten – Kreativität, ethisches Urteilsvermögen, strategisches Denken und interdisziplinäre Zusammenarbeit – mit der Leistungsfähigkeit von KI verbindet, gestaltet nicht nur Softwaresysteme, sondern auch die Zukunft des Zusammenspiels von Mensch und Maschine.

Erfolg in dieser neuen Landschaft erfordert kontinuierliches Lernen, strategisches Denken und den Mut, neu zu definieren, was es heißt, Softwareentwickler in einer KI-geprägten Welt zu sein. Wer diesen Wandel annimmt, wird nicht nur bestehen, sondern aufblühen – als Architekt der intelligenten Systeme, die unsere digitale Zukunft gestalten werden.

Über den Autor:
Murali Sastry ist ein erfahrener IT-Manager mit über 20 Jahren Erfahrung in der Leitung internationaler Engineering-Teams. Als Head of Technology und Senior Vice President bei Skillsoft – einem weltweit führenden Anbieter für digitales Lernen in Unternehmen – verantwortet er die Produktentwicklung, den Cloud-Betrieb, technischen Support und die Content-Produktion des Unternehmens.

 

Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.

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