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Warum Vertrauen über Erfolg und Misserfolg von KI entscheidet
Die Entwicklung vom passiven Tool zum aktiven Entscheidungsträger verändert grundsätzlich, wie Unternehmen Vertrauen in KI-Systeme aufbauen und managen.
Schon 1983 identifizierte Lisanne Bainbridge, Psychologin und Pionierin auf dem Gebiet der kognitiven Ergonomie, ein fundamentales Paradox der Automatisierung: Je mehr Prozesse automatisiert werden, desto kritischer wird die Rolle des Menschen in unvorhergesehenen Situationen. Diese Ironies of Automation beschrieben damals die Herausforderungen von Industrierobotern. Heute manifestiert sich dieses Paradox in KI-Systemen, die Millionen-Investments empfehlen oder Personalentscheidungen treffen. Der Einsatz ist exponentiell höher, die Verantwortungsstrukturen jedoch oft unklarer als je zuvor.
Moderne KI-Agenten überschreiten die traditionellen Grenzen der Datenbereitstellung und entwickeln sich zu autonomen Entscheidungsträgern für komplexe Geschäftsprozesse. Diese Evolution vom passiven Tool zum aktiven Entscheidungsträger verändert fundamental, wie Unternehmen Vertrauen in technologische Systeme aufbauen und managen müssen.
Die aktuellen Marktdaten offenbaren ein signifikantes Vertrauensdefizit: 61 Prozent der Menschen stehen KI-Entscheidungen skeptisch gegenüber (Trust in artificial intelligence, KPMG, 2023). Diese Skepsis ist mehr als ein Akzeptanzproblem – sie wird zum direkten Geschäftsrisiko. Unternehmen, die strategische KI-Kooperationen erfolgreich implementieren, erzielen einen doppelt so hohen ROI wie Organisationen mit isolierter KI-Nutzung: 129,4 Millionen US-Dollar jährlich gegenüber nur 65,1 Millionen US-Dollar (AI Collaboration Report, Atlassian, 2024).
Diese Diskrepanz entsteht nicht durch technische Überlegenheit, sondern durch systematisches Trust-Management. Vertrauen wird damit zur kritischen Variable für KI-Investitionen und erfordert von Führungskräften einen strategischen Balanceakt zwischen Automatisierung und menschlicher Kontrolle.
Die drei kritischen Trust-Bias und ihre strategischen Implikationen
Automation Bias: Wenn blinde Akzeptanz zur Gefahr wird
Der Automation Bias beschreibt die organisatorische Tendenz, KI-Ergebnissen unkritisch zu vertrauen, selbst wenn diese fehlerhaft oder unvollständig sind. Dieses Phänomen entsteht besonders in Hochdruck-Umgebungen, wo schnelle Entscheidungen gefordert sind und die vermeintliche Präzision algorithmischer Empfehlungen verlockend erscheint.
Um dem Automation Bias entgegenzuwirken, sind strukturierte Human-in-the-Loop-Prozesse bei geschäftskritischen Entscheidungen maßgeblich. Dabei geht es nicht um die Verlangsamung von Prozessen, sondern um die Implementierung intelligenter Validierung-Frameworks, die Risiken minimieren, bevor Millionenentscheidungen getroffen werden. Change-Management-Programme, die Mitarbeiter zu kritischem Denken ermutigen, schaffen die kulturelle Basis für diese Prozesse, während klare Eskalationspfade Sicherheit in ungewöhnlichen Situationen bieten.
Undertrust Bias: Wenn mangelnde Transparenz Innovation blockiert
Das Gegenstück zum Automation Bias ist der Undertrust Bias. Dieser beschreibt die systematische Ablehnung von KI-Systemen beispielsweise aufgrund mangelnder Nachvollziehbarkeit. Wenn Nutzer die Funktionsweise oder Datengrundlage nicht verstehen, tendieren sie dazu, die Fähigkeiten der Technologie zu unterschätzen. Das Resultat sind ungenutzte KI-Investitionen und verpasste Effizienzgewinne.
Die Lösung liegt in strategischen Initiativen im Bereich Explainable AI (XAI), die Nachvollziehbarkeit zum Wettbewerbsvorteil machen. Transparente Berichtssysteme, die auch für nicht-technische Führungskräfte verständlich sind, schaffen organisationsweite Akzeptanz. MLOps-Pipelines mit proaktiven Überwachungsfunktionen warnen frühzeitig vor Problemen und ermöglichen präventive Interventionen - ähnlich wie ein Frühwarnsystem im Auto. Schulungen zur KI-Kompetenz (sogenannte AI-Literacy-Programme) für alle Hierarchieebenen vermitteln das nötige Wissen, damit KI-Systeme sicher und vertrauensvoll eingesetzt werden können
Calibrated Trust: Der strategische Idealzustand
Calibrated Trust repräsentiert das optimale Vertrauenslevel – realistische Erwartungen an KI-Fähigkeiten gepaart mit dem Wissen, wann menschliches Urteilsvermögen unverzichtbar ist. Organisationen, die diesen Zustand erreichen, ernten messbare Vorteile: Strategische KI-Kollaborateure sparen laut der oben genannten Atlassian-Studie durchschnittlich 105 Minuten pro Tag, was über 20 Prozent ihrer Arbeitszeit entspricht.
Diese Effizienzgewinne entstehen durch aufmerksame Steuerung, die über symbolische Maßnahmen hinausgeht. Klare Regeln und verbindliche Richtlinien zum Umgang mit künstlicher Intelligenz schaffen den nötigen Rahmen, während Entscheidungs- und Kontrollgremien auf der C-Ebene die strategische Ausrichtung gewährleisten. Nur ein an der Praxis ausgerichtetes Risikomanagement erlaubt die fortlaufende Überwachung der Systemleistung und die Erkennung von Verzerrungen in Echtzeit.
Exkurs: Ethische Verantwortung ist rechtliche Pflicht
Mit dem EU AI Act wird aus ethischer Verantwortung eine rechtliche Pflicht. Das Gesetz teilt KI-Anwendungen in drei Risikostufen ein und verlangt klare Vorgaben für Hochrisikosysteme wie Lebenslauf-Scanner oder Kreditbewertungen.
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„IT-Leadership im Jahr 2025 bedeutet, Mensch und System intelligent zu orchestrieren – mit klarer Zielorientierung, effizientem Ressourceneinsatz und einem Bewusstsein für die Grenzen automatisierter Entscheidungsfindung.“
Viktoria Ruubel, Pipedrive
Diese Anforderungen machen neue Rollen nötig: Chief AI Officers steuern Strategie und Richtlinien, AI Product Owner sorgen für Funktionalität und Geschäftsnutzen, Data Governance Officer wachen über Datenqualität und Datenschutz, und AI Risk Manager konzentrieren sich auf Verzerrungen und Risiken. Wichtig ist, diese Rollen nicht als bürokratische Last zu sehen, sondern als Schlüssel für vertrauenswürdige KI. Eine offene Fehlerkultur – für Mensch und Maschine – stärkt nachhaltiges Lernen und Zusammenarbeit.
Vertrauen als Wettbewerbsvorteil
Viele Unternehmen fürchten das Scheitern teurer KI-Projekte, dabei ist die größte Gefahr gar nicht monetärer Natur: der Vertrauensverlust auf Seiten der Stakeholder. Vertrauen entsteht dann, wenn Mitarbeitende erleben, dass KI ihre Arbeit sinnvoll unterstützt, nicht ersetzt - etwa durch nachvollziehbare Entscheidungen, erhöhte Effizienz oder konkrete Entlastung.
Diese Mensch-KI-Kollaboration wird zur Kernkompetenz in einer Zeit, in der technologische Entwicklungen schneller voranschreiten als klassische Change-Prozesse. Es gelten hier die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie bei der Unternehmensreputation: Jahre des Aufbaus können in Sekunden zerstört werden. Unternehmen, die früh in robuste Governance-Strukturen investieren, sichern sich daher nicht nur Compliance, sondern einen klaren, langfristigen Wettbewerbsvorteil. Calibrated Trust ist dabei kein abstraktes Konzept, sondern ein betrieblicher Erfolgsfaktor.
IT-Leadership im Jahr 2025 bedeutet, Mensch und System intelligent zu orchestrieren – mit klarer Zielorientierung, effizientem Ressourceneinsatz und einem Bewusstsein für die Grenzen automatisierter Entscheidungsfindung. Die Fähigkeit, diese Balance kontinuierlich auszutarieren, wird zum entscheidenden Faktor für die Skalierbarkeit und Akzeptanz von KI-Initiativen in Unternehmen. Vertrauen darf unter keinen Umständen verspielt werden, denn es entscheidet maßgeblich über den Erfolg von KI - und damit laut Bitkom über den Erfolg von jedem fünften deutschen Unternehmen, Tendenz steigend.
Über die Autorin:
Viktoria Ruubel ist Chief Product Officer bei Pipedrive und verantwortet die Produktstrategie, KI-Innovation sowie kundenorientiertes Wachstum. Mit über 20 Jahren Erfahrung führte sie global Produkte und Teams bei Unternehmen wie Meta, Skype und Veriff. Dort trieb sie unter anderem Markterweiterungen und Geschäftsentwicklung voran.
Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.