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Die KI-Kluft: Neugier ist wichtiger als Demografie
Die KI-Kluft trennt neugierfördernde Lernkultur von Korsettdenken. Strukturierte Freiheit, Wissenstransfer und Risikoklarheit können die Wirkung steigern und Rollouts beschleunigen.
Wir haben die Debatte um die KI-Kluft (AI Gap, AI Divide) bisher völlig falsch geführt. Seit ChatGPT im November 2022 auf der Bildfläche erschien, war die vorherrschende Erzählung die eines Generationenkampfes: Technikaffine Mitarbeiter der Gen Z, die mühelos KI-Tools einsetzen, während ihre älteren Kollegen mit Prompts ringen und sich mit der Anpassung schwertun. Das ist eine fesselnde Geschichte – und sie ist größtenteils frei erfunden.
Die wahren Indikatoren für den KI-Erfolg
Daten der St. Louis Fed offenbaren eine differenziertere Realität. Ja, jüngere Arbeitnehmer weisen höhere Adoptionsraten bei künstlicher Intelligenz (KI) auf, aber der stärkste Indikator ist nicht das Alter, sondern das Bildungsniveau: Bachelor-Absolventen nutzen KI mit 30 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit als Personen ohne vergleichbaren Abschluss. Noch faszinierender ist eine Studie unter Lehrkräften, die ergab, dass das Vertrauen in KI mit dem Wissen über die Technologie korreliert – nicht mit Alter, Geschlecht oder Berufserfahrung. Die Schlussfolgerung ist tiefgreifend: Bei der KI-Kluft geht es nicht darum, wann man geboren wurde, sondern wie man an das Lernen herangeht.
Das ist wichtig, weil Unternehmen strategische Entscheidungen auf der Grundlage einer fehlerhaften Prämisse treffen. Sie investieren in Reverse-Mentoring-Programme, bei denen jüngere Mitarbeiter ältere unterrichten, oder schreiben im schlimmsten Fall stillschweigend ganze Teile ihrer Belegschaft als KI-resistent ab. Dabei übersehen sie die wirkliche Kluft: die zwischen Arbeitsplätzen, die das Experimentieren fördern, und solchen, die es nicht tun.
Betrachten wir, was die KI-Einführung in der Praxis wirklich antreibt. Es ist nicht das technische Können – die Benutzeroberflächen der meisten KI-Tools sind bewusst einfach gehalten. Es ist nicht die generationsbedingte Routine im Umgang mit neuer Technologie – viele Millennials und Mitarbeiter der Gen Z fühlen sich von den Möglichkeiten der KI überfordert. Stattdessen ist es etwas viel Grundlegenderes: die Bereitschaft spielerisch zu lernen, zu experimentieren, im Kleinen und oft zu scheitern. Denn Lernen und Scheitern sind untrennbar miteinander verbunden.
Raum für gemeinsames Entdecken schaffen
Genau an diesem Punkt hakt es jedoch bei den meisten Organisationen. Sie führen KI-Tools mit Schulungen und Best-Practice-Leitfäden ein und behandeln die Implementierung wie ein Software-Upgrade statt wie einen Kulturwandel. Aber KI ist nicht Excel – sie ist eine Technologie, die Neugier, Iteration und gemeinsames Entdecken belohnt. Die Mitarbeiter, die mit KI erfolgreich sind, sind nicht zwangsläufig die Jüngsten oder technisch versiertesten; es sind diejenigen, die sich sicher genug fühlen, um zu experimentieren.
Eine Untersuchung von IBM unterstreicht diese Herausforderung: 33 Prozent der Unternehmen nennen begrenzte KI-Kompetenz als ihr größtes Hindernis bei der Einführung. Die fehlenden Fähigkeiten kann man jedoch vermitteln. Schwieriger – und wertvoller – ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich ein 55-jähriger Buchhalter genauso befähigt fühlt, mit KI zu experimentieren, wie ein 25-jähriger Entwickler. Wo Fehler als Lernchancen und nicht als Karriererisiken gesehen werden. Ein Umfeld, in dem Erkenntnisse aus individuellen Experimenten zu organisationalem Wissen zusammengefügt werden können.
Selbstverständlich ist KI nicht ohne Risiken – wir haben unzählige Berichte über Halluzinationen und Fehler gesehen. Doch genau hier liegt der Schlüssel: Neugier und kritisches Denken müssen Hand in Hand gehen. Erfolgreiche Organisationen schaffen nicht nur Experimentierräume, sondern auch die nötigen Leitplanken – sichere Testumgebungen, klare Bildungsmaßnahmen über KI-Risiken und eine Kultur, die spielerisches Lernen fördert, ohne dabei die gebotene Vorsicht außer Acht zu lassen. Niemand sollte KI-Tools blind vertrauen, auch nicht im experimentellen Kontext.
Das ist das Paradoxon unserer Zeit. KI-Tools waren noch nie so zugänglich, doch die meisten Organisationen schaffen beabsichtigte Hürden für ihre Einführung. Sie fordern einen ROI, bevor experimentiert wird. Sie bestrafen Fehler, anstatt das Lernen zu belohnen. Sie isolieren KI-Initiativen in Silos, anstatt funktionsübergreifendes Ausprobieren zu fördern.
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„An diesem Wendepunkt, an dem KI-Modelle täglich besser werden und sich die Anwendungsfälle exponentiell mehren, lautet die Frage nicht, ob die eigene Belegschaft sich anpassen kann – sondern ob man ihr grünes Licht und die dazugehörige Rückendeckung gibt, es zu versuchen.“
Melissa Bischoping, Tanium
Die Unternehmen, die das KI-Rennen gewinnen werden, verbindet eine zentrale Einsicht: Es gibt noch kein Patentrezept. Wir alle improvisieren auf diesem Weg. Die Organisationen, die diese Realität anerkennen – die strukturierte Freiheit zum Experimentieren, robuste Mechanismen zum Wissensaustausch und eine Arbeitskultur schaffen, die Neugier über Zertifikate stellen – bauen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil auf.
Das Zielbild ist ein Arbeitsplatz, an dem jeder Mitarbeiter feste Zeit hat, um mit für seine Rolle relevanten KI-Tools zu experimentieren. Wo es ein gemeinsames Verzeichnis von KI-Experimenten gibt – was funktioniert hat, was nicht, was uns überrascht hat. Wo die Entdeckung des Hausmeisters, KI für die vorausschauende Wartung zu nutzen, genauso hochgeschätzt wird wie der neue Algorithmus des Datenwissenschaftlers. Das ist keine Fantasie; es ist das, was die frühen KI-Vorreiter bereits tun.
Den KI-Nebel navigiert man am besten als Seilschaft
Die wahre KI-Kluft verläuft nicht zwischen Jung und Alt, technisch mehr oder weniger versiert oder gar entlang von Bildungsabschlüssen. Sie verläuft zwischen Organisationen, die die inhärente Neugier ihrer Belegschaft entfesseln, und denen, die im klassischen IT-Korsett verweilen. Zwischen Unternehmen, die KI als ein herkömmliches IT-Projekt mit festem Enddatum ansehen, und denen, die sie als einen fortlaufenden, kulturellen Wandel begreifen.
An diesem Wendepunkt, an dem KI-Modelle täglich besser werden und sich die Anwendungsfälle exponentiell mehren, lautet die Frage nicht, ob die eigene Belegschaft sich anpassen kann – sondern ob man ihr grünes Licht und die dazugehörige Rückendeckung gibt, es zu versuchen. Diejenigen Organisationen, die diese entscheidende Frage mit „Ja“ beantworten, werden die neblige KI-Kluft nicht nur überbrücken; sie werden sie souverän meistern.
Die Zukunft gehört nicht den Unternehmen mit der jüngsten Belegschaft oder dem größten KI-Budget, sondern denen, die mutig genug sind zu sagen: „Wir wissen nicht, was der Nebel verbirgt, aber wir wissen, dass unser Seil hält. Gehen wir los.“
Über die Autorin:
Melissa Bischoping ist Senior Director, Security & Product Design Research bei Tanium. Tanium ist ein Anbieter für Converged Endpoint Management mit dem Ziel, Endgeräte in Echtzeit zu inventarisieren, zu steuern und zu schützen.
Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.
