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Warum die industrielle Softwareentwicklung überfällig ist
KI und DevSecOps revolutionieren die Softwareproduktion. Dies wird Softwareentwickler nicht ersetzen, aber sie werden die Softwareentwicklung systematisieren.
Vor kurzem wurde ich vom Hersteller meines Autos per Post über einen Rückruf informiert. Das Unternehmen hatte einen Defekt an einem der verwendeten Teile entdeckt und wollte dieses austauschen.
Die Reparatur war keine große Sache und normalerweise hätte ich die Angelegenheit wohl schnell wieder vergessen, aber etwas an der Banalität dieses Rückrufs veranlasste mich, über mein Fachgebiet, die Softwareentwicklung, nachzudenken. Der Fakt, dass Automobilhersteller einen genauen Überblick über alle eingebauten Bestandteile haben und ihre Kunden umgehend benachrichtigen können, falls es ein Problem gibt, warf eine wichtige Frage für meinen Sektor auf: Warum ist es manchmal so schwierig, Probleme in Softwarekomponenten (unabhängig von ihrer Herkunft) nachzuverfolgen und Kunden darüber zu informieren?
Der Unterschied zwischen Softwareproduktion und Fertigung lässt sich gut anhand der industriellen Revolution illustrieren: Ende des 19. Jahrhunderts ersetzten Fabriken mit Elektrowerkzeugen und wiederholbaren Prozessen die Arbeit einzelner Handwerker. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Revolution dann mit der Einführung der Fließbandfertigung, der Entwicklung der industriellen Verfahrenstechnik und der systematischen Beseitigung von Ineffizienzen fortgesetzt. Damit ging die Möglichkeit einher, jeden Schritt des Prozesses dokumentieren und überprüfen zu können.
Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts veränderte eine dritte Revolution Unternehmen weltweit. Computer, insbesondere die darauf ausgeführten Programme, wurden zu einem der wichtigsten Faktoren, die die Produktion und den Vertrieb von Gütern beeinflussten. Software „verschlingt die Welt“, um es mit den Worten von Marc Andreessen zu sagen.
Man vergleiche nur den ersten Vorwerk-Mixer aus dem Jahre 1961, der über einen einzigen Drehknopf verfügte, mit dem heutigen Modell, das Rezepte über eine WLAN-Verbindung aus dem Internet herunterlädt und die Nutzer so direkt anleitet.
Tatsache ist, dass die überwiegende Mehrheit der Produktinnovationen heute dem Bereich der Software entspringen. Software bestimmt, wie alle Produkte, nicht nur digitale, vertrieben und gekauft werden. Code ist heute mindestens so wichtig wie die klassischen Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit, Land und Know-how. Ohne Software würde die moderne Industrie schlichtweg zum Erliegen kommen – und das ist keine Übertreibung.
Das Softwareparadoxon
Trotz aller transformativen Veränderungen, die Software in den letzten 50 Jahren bewirkt hat, wird die Software selbst nach wie vor hauptsächlich auf vorindustrielle Weise durch einzelne Handwerker entwickelt, die mit einer Vielzahl von Werkzeugen oder Tools arbeiten.
Und ebenso wie Handwerker haben auch Entwickler unterschiedliche Fähigkeiten. Die Produktionslinie in der Software ist ein verworrenes Netz von Abhängigkeiten, das zu Schwachstellen und Ineffizienzen führen und erhebliche Belastungen, Kosten und Verwirrungen schaffen kann. Um die chaotische Landschaft, in der wir arbeiten, zu beschreiben, eignen sich Legosteine gut: Man stelle sich einfach vor, jeder einzelne hätte eine individuelle Noppenkonfiguration, die mit anderen Steinen inkompatibel ist.
Diese Umgebung führt naturgemäß zu Verzögerungen. Ein einziger Engpass, wie die Abwesenheit einer einzelnen Person oder langwierige Tests eines Teams, kann ein ganzes Projekt zum Stillstand bringen. Nehmen wir als Beispiel die digitale Transformation einer großen deutschen Bank von 2016 bis 2019. In den alten Systemen waren für jede Aktualisierung umfangreiche Sicherheitsprüfungen von drei bis vier Monaten nötig, während die Konkurrenz Updates innerhalb von Tagen veröffentlichen konnte. Durch diesen Rückstand in der Entwicklungsgeschwindigkeit verpasste die Bank ihre Chance auf einen erheblichen Marktanteil im digitalen Bankgeschäft.
Solche Verzögerungen verstärken die bestehenden Ineffizienzen noch mehr. Laut dem Global DevSecOps-Bericht 2024 von GitLab geben beispielsweise 63 Prozent der Entwickler an, sechs oder mehr verschiedene Tools zu verwenden. Die finanziellen Folgen dieser Ineffizienzen sind erheblich. So lieferte beispielsweise ein großer deutscher Automobilhersteller ein neues Modell aus, noch bevor die Software vollständig fertiggestellt war. Zwar erhielten die ersten Käufer Rabatte, doch musste das Unternehmen letztendlich Milliarden für eine Rückrufaktion ausgeben, um die Fahrzeuge nach Fertigstellung der Software nachzurüsten. Die Sehnsucht nach einer Konsolidierung der Toolchain ist also verständlicherweise groß.
Zeit für eine Industrialisierung der Softwareproduktion
Glücklicherweise revolutionieren künstliche Intelligenz und DevSecOps (ein kombinierter Ansatz zur Entwicklung, Sicherheit und zum Betrieb von Softwareressourcen) die Softwareproduktion. Diese Revolution wird Softwareentwickler nicht ersetzen, aber sie wird die Softwareentwicklung systematisieren und wesentlich produktiver und effizienter gestalten – so wie es bei der Herstellung physischer Güter in der industriellen Revolution der Fall war.
So wie Fabrikanten die Werkzeuge, Techniken und Arbeitsabläufe standardisierten, die sie zur Fertigung von Produkten verwenden, muss auch DevSecOps eingesetzt werden, um die Tools, Techniken und Workflows zu standardisieren, mit denen Software entwickelt wird.
Viele Prozesse, die im Laufe eines Jahrhunderts in der Industrie erfunden und optimiert wurden, lassen sich auf die Anforderungen der modernen, industrialisierten Softwareentwicklung übertragen. Die Anwendung dieser Prinzipien hilft uns dabei, Ineffizienzen zu identifizieren und zu überwinden, Prozesse zu optimieren, Abhängigkeiten zu reduzieren und die Produktivität der Entwickler zu steigern.
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„So wie die industrielle Revolution die physische Produktion verändert hat, wird es in den kommenden fünf bis zehn Jahren zu einem Umbruch in der Softwareentwicklung kommen. Unternehmen, die zögern oder sich dieser Industrialisierung der Software widersetzen, werden noch innerhalb dieses Jahrzehnts vom Markt verschwinden.“
Andre Braun, GitLab
Außerdem erhalten Softwareentwickler einen besseren Überblick über die Komponenten ihrer Produkte, was die Sicherheit der gesamten Softwarelieferkette erhöht. So wie jeder Hersteller heute über einen Audit-Trail für die Teile verfügt, die in sein Produkt eingebaut sind, können die Softwareentwickler von morgen jede Komponente ihrer Softwarelösungen zurückverfolgen.
Wir müssen Lehren aus den Optimierungsbemühungen unserer Vorgänger ziehen und diese auf die neue Ära der industrialisierten Softwareentwicklung übertragen.
Evolution versus Revolution
Auch wenn viele Führungskräfte von Umbrüchen sprechen, sind Revolutionen gerade deshalb so herausfordernd, weil sie einen radikalen Wandel mit sich bringen. Die meisten Unternehmen bevorzugen einen evolutionären Ansatz, der den Mitarbeitern Zeit zur Anpassung gibt und das Risiko von Fehlern senkt, was verständlich ist – nur ist diese Art der Evolution eben auch ein sehr langsamer Prozess.
Unsere erfolgreichsten Kunden setzen daher nicht nur auf Evolutionsprozesse, sondern gestalten ihre Softwareentwicklung grundlegend neu und erzielen in Rekordzeit erhebliche Gewinne.
So wie die industrielle Revolution die physische Produktion verändert hat, wird es in den kommenden fünf bis zehn Jahren zu einem Umbruch in der Softwareentwicklung kommen. Unternehmen, die zögern oder sich dieser Industrialisierung der Software widersetzen, werden noch innerhalb dieses Jahrzehnts vom Markt verschwinden. Es steht also einiges auf dem Spiel.
Aus diesem Grund ist es allen Unternehmen dringend anzuraten, sich noch heute auf den Wandel vorzubereiten – konsequent zu automatisieren, Prozesse zu rationalisieren und die Softwareproduktion mit der Präzision eines modernen Fließbands zu organisieren. Es ist Zeit, sich auf diese Art der Softwarerevolution einzulassen, um auch zukünftig mitzuhalten und mitgestalten zu können.
Über den Autor:
André M. Braun ist seit 2020 Head of DACH bei GitLab. Mit über 30 Jahren Erfahrung in der IT-Branche hat er in führenden Management- und Landesleiterpositionen bei Unternehmen wie Acer, EMC und Dell gearbeitet. Vor seinem Wechsel zu GitLab baute und leitete er das Hybrid-Cloud-Geschäft von NetApp in der DACH-Region. Als gefragter Experte für DevOps und Cloud-Technologien teilt er sein Wissen regelmäßig als Referent auf renommierten IT-Veranstaltungen, darunter die IDC DevOps Conference.
Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.