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Wo die Digitalisierung der Lieferkette schief lief

Die Coronapandemie hat sowohl Kunden als auch Unternehmern vor Augen geführt: das Versprechen einer digitalen Lieferkette konnte nicht überall eingelöst werden.

Wenn die Flut kommt, sieht man, wer vorbereitet ist und wer nicht. Nirgendwo hat die Pandemie so tief verwurzelte Unzulänglichkeiten offenbart wie in der globalen Lieferkette. In den Jahren vor COVID-19 versprach die digitale Revolution, den internationalen Handel zu verändern – und das tat sie auch.

Schlanke Fertigungstechniken, Just-in-Time-Lieferketten, hochspezialisierte Produktionslinien und eine Vielzahl anderer Praktiken brachten große Effizienz und, was für den Kunden am wichtigsten war, billigere Waren. Jeder war ein Gewinner – bis die Flut kam.   

Angesichts von COVID-19 waren diese neuen Lieferkettenmodelle (und die sie unterstützende Technologie) für Hersteller und Lieferanten nicht mehr anpassungsfähig. Als die Lieferketten zum Stillstand kamen, vergruben Landwirte verrottende Ernten und schenkten literweise Milch aus, während die Regale in den Lebensmittelgeschäften leer blieben. In den USA kam es zu einer Fleischknappheit, nachdem die Industrie von einer Handvoll nationaler Fleischverpackungsbetriebe abhängig wurde. Und weltweit werden Millionen von Autos weniger gebaut, weil die benötigten Mikrochips nicht mehr zu bekommen sind.

Die digitalen Fäden, die den internationalen Handel immer mehr durchziehen, haben ihre Aufgabe nicht erfüllt. Was ist schiefgelaufen? Und wie können Einkäufer und Lieferanten sicherstellen, dass sie nicht blank dastehen, wenn das nächste Mal die Flut kommt?

Transformationsmüdigkeit

Auf die erste Frage gibt es eine einfache Antwort: Digitalisierung ist schwierig. Die meisten Unternehmen haben eine Reihe gescheiterter digitaler Projekte hinter sich. Wenn sie also ein System gefunden haben, das für sie funktioniert, zum Beispiel für die Übermittlung von Rechnungen oder Bestellungen, ist es in ihrem Interesse, dass auch ihre Lieferanten es übernehmen. Außerdem haben die Einkäufer das finanzielle Gewicht, um dies zu verlangen.

Kurz gesagt, die Welt ist eine Welt der Einkäufer. Die Lieferanten leben in ihr. Das bedeutet jedoch nicht, dass Unternehmen immer sinnvolle Vorteile aus der Beauftragung ihrer eigenen Portale ziehen. Wenn sie gut gemacht sind, können Einkäuferportale für beide Seiten von Nutzen sein, doch meistens bleiben die Digitalisierungsbemühungen hinter den Erwartungen zurück. Statt für reibungslosere Prozesse und mehr Effizienz zu sorgen, müssen Unternehmen einen Großteil der Rechnungen manuell abfragen, klären, ändern oder stornieren, was den Aufwand für die Einrichtung eines digitalen Portals zunichte macht.

Prozesse sind jedoch nur eine Seite der Medaille. Was vielleicht noch wichtiger ist: Digitale Lieferketten basieren auf dem veralteten Hub-and-Spoke-Modell mit diskreten 1-zu-1-Beziehungen zwischen Käufern und Lieferanten. Das bedeutet, dass jede Beziehung zu einem eigenen Projekt wird, das sowohl dem Käufer als auch dem Verkäufer viel Zeit und Mühe abverlangt. Es ist kostspielig, umständlich und von Natur aus ineffizient. Darüber hinaus bringt es selten oder nie die Vorteile, die die Digitalisierung eigentlich bringen sollte: größere Verantwortlichkeit, bessere Einhaltung gesetzlicher Vorschriften, Transparenz, Einblicke in Echtzeit oder eine ganzheitliche Sicht auf die Beziehungen.

Der Netzwerkeffekt

Das Problem ist nicht die Technologie selbst, sondern das Beziehungsmodell. Unternehmen brauchen eine Technologieplattform, die es ihnen ermöglicht, ein Netzwerk vollständig digitaler Beziehungen mit jedem Unternehmen überall auf der Welt zu knüpfen. Dabei sollten sie sich von sozialen Netzwerken inspirieren lassen, die ein digitales Netzwerk schaffen, in dem es einfach ist, Kontakte zu knüpfen und Informationen auszutauschen.

Zum Beispiel LinkedIn: Hier kann man nicht nur seine Lebensläufe austauschen, sondern auch sein eigenes berufliches Netzwerk aufbauen und erweitern. Es gibt keine Einstiegshürde. Man braucht nur eine E-Mail-Adresse und schon kann man loslegen. Genau so sollten die Beziehungen in der Lieferkette sein. Es braucht keine Investitionen oder neue Infrastrukturen. Unternehmen schließen sich an eine universelle Plattform an und beginnen mit der Digitalisierung aller Aspekte ihrer Beziehungen – von der Rechnungsstellung über den Einkauf bis hin zu den Zahlungen.

Gert Sylvest, Tradeshift

„Unternehmer sollten sich von sozialen Netzwerken inspirieren lassen, die ein digitales Netzwerk schaffen, in dem es einfach ist, Kontakte zu knüpfen und Informationen auszutauschen.“

Gert Sylvest, Tradeshift

Dieser einfache, kostengünstige und modulare Weg zur Digitalisierung mag als Anreiz ausreichen, um Lieferanten zu ermutigen, sich einem digitalen Lieferkettenökosystem anzuschließen, aber er kratzt nur an der Oberfläche dessen, was solche Plattformen bringen können. Genau wie bei LinkedIn können Unternehmen ihre eigenen Handelsnetze aufbauen, sich gegenseitig Lieferanten und Käufer empfehlen und vertrauenswürdigen Partnern bevorzugte Zahlungsbedingungen und andere Anreize bieten.

Digitale Handelsnetzwerke bedeuten, dass Unternehmen nicht mehr 100 Prozent ihrer Zeit mit dem Aufbau und der Verwaltung der 20 Prozent ihrer Beziehungen verbringen müssen, die 80 Prozent ihres Umsatzes einbringen. Stattdessen können sie ihr gesamtes Lieferkettennetzwerk, einschließlich der Long-Tail-Lieferanten, ganzheitlicher betrachten, ohne dass ein unüberschaubarer Mehraufwand entsteht. Mit der richtigen digitalen Plattform können Unternehmen ein ständig wachsendes, weltweites Netzwerk aufbauen und orchestrieren.

Über den Autor:
Gert Sylvest ist Mitgründer von Tradeshift und VP für Netzwerkprodukte. Er leitet die Entwicklung von neuen innovativen Produkten und Dienstleistungen für Einkäufer und Lieferanten auf der Tradeshift-Handelsplattform. Sylvest verfügt über umfangreiche Erfahrungen in den Bereichen digitale sowie groß angelegte öffentliche/private Procure-to-Pay-Infrastrukturen und Finanzdienstleistungen. Vor Tradeshift war er bei Accenture und Avanade für die technische Konzeption und Implementierung der dänischen (Easytrade/Nemhandel) und europäischen (PEPPOL) Peer-to-Peer-basierten digitalen Source-to-Pay-Infrastrukturen verantwortlich.

Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.

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