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Digitale Souveränität statt Cloudwashing: wie das gelingt
Viele als souverän beworbene Cloud-Angebote sind Cloudwashing. Unternehmen müssen Transparenz, Kontrolle und die Architektur prüfen, um echte digitale Souveränität zu erreichen.
Was im Umweltbereich als Greenwashing in die Kritik geriet, erlebt in der Technologiebranche gerade seine digitale Entsprechung: Cloudwashing. Immer mehr Anbieter werben mit „souveränen“, „europäischen“ oder gar „deutschen“ Cloud-Angeboten. Doch wer genauer hinsieht, erkennt schnell: Häufig steckt dahinter nur ein Etikett und keine echte Unabhängigkeit.
Dabei ist digitale Souveränität längst kein politisches Schlagwort mehr, sondern eine zentrale wirtschaftliche Frage. In Zeiten geopolitischer Spannungen, wachsender Datenschutzanforderungen und globaler Machtverschiebungen wird sie, insbesondere für Unternehmen in Deutschland und Europa, zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor.
Digitale Souveränität ist mehr als ein Standortversprechen
Laut dem Cloud Report 2025 (PDF) des IT-Branchenverbands Bitkom hinterfragen inzwischen 97 Prozent der deutschen Unternehmen die Herkunft und Vertrauenswürdigkeit ihrer IT- und Cloud-Anbieter. Der Wunsch nach Kontrolle über Daten, Infrastruktur und Entscheidungsprozesse ist groß, doch um sie zu erreichen, muss der Begriff Souveränität vollumfänglich verstanden werden.
Viele Unternehmen glauben, eine Cloud-Lösung sei automatisch souverän, sobald sie ihre Daten physisch in einem europäischen Rechenzentrum speichert. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Echte digitale Souveränität umfasst weit mehr als Speicherorte. Sie bedeutet, dass Unternehmen nachvollziehen können, wer Entscheidungen trifft, wer Gewinne realisiert und welcher Rechtsordnung ihre Daten unterliegen. Und sie setzt voraus, dass Anbieter keine technischen und vertraglichen Hürden schaffen, die Unternehmen in geschlossenen Systemen gefangen halten.
Cloudwashing: Wenn Marketing Souveränität vorgaukelt
Unternehmen stehen zunehmend unter Druck, ihre IT-Strategie an regulatorische und geopolitische Anforderungen anzupassen. Anbieter reagieren oft mit wohlklingenden Versprechen darauf: Souveräne Cloud, EU-First oder lokale Datenhaltung sind gängige Schlagworte. Doch ähnlich wie beim Greenwashing werden diese Begriffe häufig strategisch, nicht substanziell eingesetzt.
Hinter vielen vermeintlich europäischen Angeboten stehen globale Konzerne, deren operative Entscheidungen, Eigentumsverhältnisse oder rechtliche Verpflichtungen außerhalb der EU liegen. Selbst bei einer Speicherung auf europäischen Servern ist ein Zugriff durch außereuropäische Behörden nicht ausgeschlossen, etwa aufgrund von Gesetzen wie dem US CLOUD Act, der US-Behörden auch den Zugriff auf im Ausland gespeicherte Daten von US-Unternehmen erlaubt. So entsteht eine gefährliche Grauzone: Kunden fühlen sich in Sicherheit, während ihre Daten faktisch weiterhin denselben Risiken ausgesetzt sind wie zuvor.
Drei Schlüsselfragen, mit denen Sie Cloudwashing entlarven
Um echte Souveränität von Marketingversprechen zu unterscheiden, sollten Unternehmen Cloud-Angebote mit drei einfachen, aber entscheidenden Fragen prüfen:
- Wo werden Entscheidungen getroffen? Hier geht es um die Kontrolle von Produktentwicklung, Codebasis, Sicherheitsrichtlinien und Datenschutzprozessen. Wenn die operative Steuerung und das geistige Eigentum außerhalb Europas liegen, ist die Lösung kaum als souverän zu bezeichnen. Eine rechtsverbindliche Datenverarbeitung innerhalb der EU bietet Unternehmen juristische Absicherung, sofern es keine Abhängigkeit von nicht-europäischen Mutterkonzernen gibt.
- Wo fließen Gewinne und Verantwortung hin? Eine europäische Niederlassung bedeutet nicht automatisch europäische Kontrolle. Entscheidend ist, wo die Muttergesellschaft sitzt und welchem nationalen Recht sie somit unterliegt.
- Wie offen ist die Architektur? Herstellergebundene und nicht standardisierte Schnittstellen, fehlende Datenportabilität oder eingeschränkter API-Zugang sind klassische Formen von Vendor Lock-in. Sie schaffen Abhängigkeiten, die nichts mit Souveränität zu tun haben.
Nur wenn Anbieter auf diese Fragen klare, überprüfbare Antworten liefern, können Unternehmen auf ihre Dienstleistung vertrauen und sich vor Cloudwashing schützen.
Heimvorteil nutzen: Europäische Cloud als strategischer Vorteil
In der öffentlichen Debatte wird digitale Souveränität oft als Kostenfaktor oder Innovationsbremse dargestellt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Echte Souveränität kann zu einem langfristigen strategischen Wettbewerbsvorteil werden. Europäische Cloud-Anbieter, die von Grund auf datenschutzkonform, transparent und unabhängig aufgestellt sind, bieten Unternehmen nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch Planbarkeit und Resilienz.
Wer heute in souveräne Strukturen investiert, kann sich morgen flexibler auf regulatorische Änderungen einstellen und reduziert gleichzeitig das Risiko geopolitischer Abhängigkeiten. Beispiele wie Gaia-X zeigen, dass sich innerhalb Europas bereits Ökosysteme bilden, die auf Interoperabilität und offene Standards setzen. Noch sind diese Ansätze nicht perfekt, aber sie zeigen eine klare Richtung: hin zu einem europäischen Digitalraum, der auf Vertrauen und Eigenständigkeit basiert.
Innovation durch Unabhängigkeit: Europas Chance im globalen Wettbewerb
Europa steht an einem Wendepunkt. Zwischen amerikanischen Hyperscalern und chinesischen Plattformanbietern droht der Kontinent den Anschluss zu verlieren, es sei denn, er definiert digitale Souveränität als Innovationschance. Die jüngsten EU-Initiativen, vom Data Act über den Digital Markets Act (DMA) bis zum AI Act, zielen darauf ab, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und Abhängigkeiten zu verringern.
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„Europa steht an einem Wendepunkt. Zwischen amerikanischen Hyperscalern und chinesischen Plattformanbietern droht der Kontinent den Anschluss zu verlieren, es sei denn, er definiert digitale Souveränität als Innovationschance.“
Agur Jõgi, Pipedrive
Diese Regulierung ist kein Innovationshemmnis, sondern ein Schutzrahmen, der europäische Unternehmen befähigt, auf Basis von Transparenz und Vertrauen zu wachsen. Wenn Anbieter, Startups und etablierte Unternehmen diesen Rahmen aktiv nutzen, kann daraus ein europäisches Innovationsmodell entstehen, das auf drei Säulen beruht: Souveränität, Nachhaltigkeit und Kooperation.
Fazit: Souveränität beginnt mit Transparenz
Cloudwashing zeigt, wie schnell wichtige Begriffe verwässert werden, wenn sie zum Marketinginstrument werden. Für Unternehmen bedeutet das: Sie müssen Souveränität nicht versprochen, sondern überprüfbar einfordern. Wo werden Entscheidungen getroffen? Wer trägt Verantwortung? Nur wer diese Fragen konsequent stellt, kann sicherstellen, dass digitale Souveränität mehr ist als ein Aufkleber auf dem Serverrack, nämlich ein strategischer Grundpfeiler europäischer Wettbewerbsfähigkeit.
Über den Autor:
Agur Jõgi ist CTO bei Pipedrive und verantwortlich für die Leitung der Entwicklungs- und Infrastrukturbereiche des Unternehmens. Er treibt die technologische Vision der nächsten Generation voran und sorgt für ein sicheres Nutzererlebnis für die Kunden. Jõgi kam zu Pipedrive, nachdem er als Strategy and Innovation Lead bei Deloitte NEXT tätig war, wo er Organisationen dabei unterstützte, neue Geschäftswachstumschancen zu entdecken. Er verfügt über Führungserfahrung auf Executive-Ebene (CIO, CTO, COO) in den Bereichen IT, Bankwesen und Telekommunikation.
Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.