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Der europäische Irrtum: Unabhängigkeit um jeden Preis

Die wenigsten Unternehmen wissen, was digitale Souveränität konkret für die eigene Organisation bedeutet. Wie sich in fünf Schritten mehr Selbstbestimmtheit erreichen lässt.

Wir führen die falsche Debatte. Während in Deutschland über digitale Souveränität leidenschaftlich gestritten wird, drehen wir uns inhaltlich im Kreis. Wir diskutieren seit Monaten, ob wir autark werden müssen, ob Europa eigene KI braucht oder wie wir unsere Unabhängigkeit zurückgewinnen. Große Worte, aber was besagen sie?

Autarkie bedeutet, dass ich alles selbst mache. Dagegen heißt Souveränität, dass ich selbst gestalte. Ich kann vom Verhandlungstisch aufstehen, wenn es mir nicht gefällt. Und ich kann zwischen bestehenden Alternativen auswählen. Unternehmen müssen sich immer fragen: Wo entstehen gefährliche Abhängigkeiten? Welche betreffen unser Geschäftsmodell unmittelbar und welche sind völlig unkritisch?

Die Zahlen aus dem Index Digitale Souveränität (IDS) zeigen das deutlich. 92 Prozent der befragten Unternehmen nennen das Thema Digitale Souveränität relevant. Fast alle erkennen, dass Unabhängigkeit wichtig ist. Aber nur ein Viertel der Führungsetagen versteht, was digitale Souveränität konkret für die eigene Organisation bedeutet. Das ist nicht nur eine Lücke. Es ist der Beweis dafür, dass wir über das Falsche reden.

Denn trotz aller Alarmrufe lautet die unbequeme Wahrheit: Völlige Unabhängigkeit ist ein europäischer Irrtum, denn ganz ohne die Lösungen der Hyperscaler geht es nicht. Dafür sind deren Produkte zu gut. Und wer völlige Unabhängigkeit anstrebt, gefährdet am Ende genau jene Wettbewerbsfähigkeit, die er eigentlich schützen will. Unternehmen brauchen kein Souveränitäts-Pathos, sondern einen ehrlichen, geschäftsgetriebenen Fahrplan mit dem Ziel der Selbstbestimmtheit. Einen Plan, der die entscheidenden Fragen beantwortet: Wo bedrohen Abhängigkeiten unser Geschäftsmodell und wo treiben sie uns voran?

In fünf Schritten zum souveränen Bewusstsein

Der Ausgangspunkt jeder Souveränitätsstrategie ist eine präzise Definition dessen, was digitale Souveränität für die eigene Organisation bedeutet. Nicht im politischen, sondern im unternehmerischen Sinne. Souveränität ist keine technische Frage, sie betrifft das gesamte Unternehmen – nicht nur die IT, sondern vor allem das Management.

Index Digitale Souveränität
Abbildung 1: Ergebnisse aus dem Index Digitale Souveränität.

Der erste Schritt ist ein unternehmensweites Konzept. Es priorisiert die individuellen Risiken aus Geschäftssicht, bewertet ehrlich die eigene Änderungsfähigkeit und bezieht die strategische Planung ein. Erst auf dieser Grundlage zeigt sich, welche Lücken tatsächlich kritisch sind und welche Abhängigkeiten das Unternehmen bewusst eingehen kann.

Im zweiten Schritt müssen die Unternehmen dieses Konzept auf Vorstandsebene verankern. Digitale Souveränität lässt sich nicht an die IT delegieren. Der Vorstand muss den Rahmen setzen. Hier geht es um geschäftsstrategische Entscheidungen: Wo sind Daten, Prozesse oder Technologien so eng mit dem Kern des Unternehmens verbunden, dass Abhängigkeiten riskant werden? Ein entsprechendes Assessment schafft Klarheit über Prioritäten. Dabei werden technische, operative und regulatorische Dimensionen gleichermaßen betrachtet. Erst dieser gemeinsame Blick ermöglicht, dass sich Souveränität zu einer ganzheitlichen Initiative entwickelt, die sich am Kerngeschäft orientiert.

Souveränität versus fehlende Souveränität: Was kostet mich mehr?

Der dritte Schritt führt in die Detailanalyse. Hier kommt die Cloud ins Spiel. Viele Diskussionen über digitale Souveränität basieren immer noch auf Annahmen, die längst überholt sind. Cloud ist nicht das Problem, sondern einer der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit. Eine Tool-gestützte Analyse von Cloud- und Datensouveränität zeigt, wie die eigene Architektur aufgestellt ist, wo kritische Schnittstellen liegen und wie sich Business-Anforderungen auf konkrete Workloads auswirken. Gleichzeitig wird deutlich, wie europäische Anbieter im Vergleich zu globalen Plattformen abschneiden und wie Hyperscaler wachsenden Anforderungen begegnen.

Peter de Lorenzi, adesso SE

„Der Ausgangspunkt jeder Souveränitätsstrategie ist eine präzise Definition dessen, was digitale Souveränität für die eigene Organisation bedeutet. Nicht im politischen, sondern im unternehmerischen Sinne.“

Peter de Lorenzi, adesso SE

Dieser Teil des Fahrplans ist oft derjenige, der die größten Mythen entkräftet. Erst auf Basis dieser Erkenntnisse entstehen belastbare Handlungsempfehlungen. Hier zeigt sich, wie weit Wunschdenken und Realität auseinanderliegen. Souveränität kostet, aber fehlende Souveränität genauso. Vielleicht sogar deutlich mehr. Die zentralen Fragen lauten: Welche Abhängigkeiten akzeptieren wir bewusst, weil sie Innovation ermöglichen? Und wo müssen wir gezielt gegensteuern, weil Geschäftsmodell und Compliance auf dem Spiel stehen oder geopolitische Risiken drohen? Aus den Analyseergebnissen folgen Anpassungen der eigenen Cloud-Strategie, Überlegungen zum Wechsel einzelner Anbieter oder die bewusste Kombination mehrerer technologischer Ökosysteme. Entscheidend ist, dass Unternehmen den Nutzen souveräner Architekturen nicht nur technisch, sondern geschäftlich bewerten.

To be or not to be – ist das nicht die Frage?

Der letzte Schritt des Fahrplans ist die Umsetzung. Spätestens jetzt beweist eine Organisation, ob sie wirklich souverän handeln oder nur souverän wirken will. Eine souveräne Architektur ist keine einmalige Transformation, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Unternehmen müssen Cloud-Implementierungen so gestalten, dass sie anpassbar und flexibel bleiben. KI-Lösungen sollten sie so integrieren, dass sie erklärbar und rechtskonform sind. Security- sowie Compliance-Fähigkeiten gehören auf ein Niveau, das regulatorischen und geopolitischen Anforderungen standhält. Souveränität ist eine Fähigkeit. Unternehmen müssen ihre Entscheidungsfreiheit dauerhaft sicherstellen, nicht nur während der Projektzeit.

Wir sollten Unabhängigkeit nicht um jeden Preis erreichen wollen. Das ginge zulasten der Wettbewerbsfähigkeit. Aber Unternehmen müssen wissen, welche Fähigkeiten unverzichtbar sind, um auch morgen noch selbstbestimmt entscheiden zu können. Nur so wird aus digitaler Souveränität mehr als ein politisches Versprechen: Ein betriebswirtschaftliches Werkzeug, das Organisationen widerstandsfähiger und flexibler macht.

Über den Autor:
Peter de Lorenzi ist Executive Director IT Consulting & Managed Services von adesso SE. adesso SE ist ein international tätiger, unabhängiger IT-Dienstleister mit Hauptsitz in Dortmund (Deutschland), der Unternehmen mit Beratung und Softwareentwicklung bei der Digitalisierung unterstützt – mit Fokus auf die Optimierung von Kerngeschäftsprozessen und Branchenlösungen.

Die Autoren sind für den Inhalt und die Richtigkeit ihrer Beiträge selbst verantwortlich. Die dargelegten Meinungen geben die Ansichten der Autoren wieder.

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